Meine gute Oma, die die ganze Welt mit ihren Socken, Kniestrümpfen, Pullovern und Schals bestrickte, pflegte meinem Vater folgende Geschichte zu erzählen, die während des letzten Kriegs passierte:
Sie war mit meinem Vater schwanger und wahrscheinlich gerade allein, als eines Tages drei bis vier Männer aus dem Dorf kamen und sie bedrängten. Es waren Nazis. Meine Oma wohnte mit ihrem Mann auf einem kleinen Bauernhof in der Nähe von Freiburg. Wie fast alle im Dorf waren meine Großeltern sehr arm. Auf der Rückseite des Hauses befanden sich zwei kleine Schweineställe mit jeweils einem Schwein. Die Nazis wollten ein Schwein mitnehmen. Da es den Männern nicht gelang, das Schwein aus dem Stall zu bewegen, drängten sie meine Oma, mit einem Eimer Futter das Schwein nach draußen zu locken. Meine Oma hatte Angst. Auch das Schwein hatte Angst, Todesangst. Was blieb ihr anderes übrig? Sie hatte keine Wahl und musste folgen, denn die Nazis im Dorf hatten damals das Sagen. Das Schwein quiekte vor Schreck und drückte meine schwangere Oma an die Wand. Sie musste ohnmächtig zusehen, wie die Nazis das Schwein abschleppten. Anschließend schlachteten sie es und verspeisten es im Wirtshaus im Dorf.
Wieso erzähle ich diese Geschichte? Offensichtlich leben wir wieder in einer Zeit, in welcher wir lernen müssen, Maß zu halten und zu erkennen, was wesentlich ist und was nicht. Meine Großeltern und ihre Generation waren gezwungen, mit Wenigem auszukommen. Denn der Mangel war ihr ständiger Begleiter. Auch wenn meine Großeltern damals nicht ihre Heimat verloren haben, vertrieben oder im Krieg gewesen sind, so haben doch die alltägliche Not, der Hunger und die Armut bei ihnen Traumata hinterlassen, die unverarbeitet blieben und an die Nachkommen weitergegeben wurden. Das kann ich am Horoskop meines Vaters erkennen, auch wenn ich die genaue Uhrzeit seiner Geburt nicht kenne. Mein Vater hat sechs Planeten im Zeichen Stier und zwei Planeten im Zeichen Jungfrau – viel geerdeter und materialistischer als er kann man kaum sein. Kein Wunder, er ist ja während des Krieges geboren, als es nur um das physische Überleben ging. Das war die damalige Zeitqualität. Für eine geistige Welt gab es da keinen Platz.
Neben der starken Stier-Betonung gibt es noch eine andere Auffälligkeit im Horoskop meines Vaters: die Konjunktion von Mond und Neptun. Der Mond steht unter anderem für die Gefühlswelt, kindliche Prägungen und das Verhältnis zur Mutter, also meine Oma. Neptun in Verbindung mit dem Mond verleiht eine hohe Sensibilität, künstlerische Fähigkeiten und Phantasie. Auf der unerlösten Ebene kann diese Konstellation aber auch zu Angst, Täuschung und Betäubung der Gefühle führen. Nun gehört mein Vater zu einer Generation, die es nicht gelernt hat, in sich hinein zu spüren, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und zu artikulieren. Zum Teil hat mein Vater seine Empfindungen über die Musik ausgedrückt, denn er singt seit seiner Jugend mit großer Begeisterung im Kirchenchor und hat sich mit seinem ersten Geld ein Klavier gekauft, um ohne Notenkenntnisse darauf zu spielen. Ansonsten hat er seine sensible Ader zumeist auf einer unerlösten Ebene gelebt, d. h. seine Gefühlswelt war schwärmerisch, diffus, unbewusst. Mitgefühl und Verständnis für andere waren ihm eher fremd. Vielleicht sollte das auch so sein, denn ich führe das Verhalten meines Vaters auf das Erlebnis meiner Oma im Schweinestall zurück: Mein Vater hat die Angst seiner Mutter auf einer ihm nicht bewussten Ebene mitbekommen, als sie mit ihm schwanger war und sich einen Geburtszeitpunkt ausgesucht, welcher diese Erfahrung widerspiegelt, in diesem Fall die Konstellation Mond-Neptun. Er war gefährdet, als die Geschichte mit dem Schwein passierte. Meine Oma hätte ja eine Frühgeburt haben und er dabei sterben können. Mond-Neptun ist eine Schutzkonstellation in der Kindheit; denn Neptun betäubt und deckt gnädig zu, was darunter an Angst verborgen liegt. Es bleibt den Menschen mit einer solchen Konstellation die Möglichkeit, später diese Ängste aufzudecken und das Potenzial, das darin steckt, zu erkennen und danach zu leben.
Die Geschichte mit dem Schwein und den Nazis geht noch weiter. Sie hatte möglicherweise auch Konsequenzen auf mein Leben, ganz subtil und unterschwellig. Darauf komme ich gleich zu sprechen. Zunächst möchte ich meine Oma näher beschreiben. Meine Oma war eine schöne Frau mit klassischen Gesichtszügen. Ihre hellblau leuchtenden Augen strahlen auch heute noch durch die Augen meines Vaters. Sie war eine Waage wie ich, strickte für uns in jeder freien Minute weiße Kniestrümpfe mit schräg verlaufendem Lochmuster (siehe Bild links), konnte als Schwäbin flink Spätzle vom Brett schaben und auch sonst einfache, schmackhafte Gerichte kochen. Sie war sehr fromm und ging regelmäßig in die Kirche. Der Glaube gab ihr Kraft. Ich erinnere mich, wie ich mit ihr im Mai in die Kirche ging und Marienlieder sang. Das waren einfache, melodiöse Lieder. Meine Oma konnte sehr schön singen.
Auch bei meiner Oma kann ich nicht genau sagen, um wie viel Uhr sie geboren ist. Erstellt man ein Horoskop auf den Tag ihrer Geburt, so ist zu sehen, dass sie den Planeten Merkur an derselben Stelle hat wie ich, nämlich auf etwa 20° Waage. Außerdem steht bei ihr die Venus im Zeichen Skorpion – genau wie bei mir. Was bedeutet das? Nun ja, Menschen mit Merkur im Zeichen Waage drücken sich gerne freundlich und diplomatisch aus, ohne den anderen zu verletzen. Sie versuchen stets, beide Seiten der Medaille zu sehen und zwischen den Fronten zu vermitteln.
Während Merkur etwas über die Art des Denkens und der Kommunikation aussagt, lässt die Stellung der Venus Rückschlüsse auf die Art der Beziehung, Liebe und Erotik zu. Die Venus im Zeichen Skorpion spricht für eine leidenschaftliche, sinnliche und erotische Natur, heimliche oder verbotene Liebschaften nicht ausgeschlossen. Ich muss gestehen, dass diese Seite in meinem Leben sich durchaus bemerkbar gemacht hat, was mich manchmal in arge Grenzsituationen gebracht hat. Ob allerdings meine Oma diese Eigenschaften ausleben konnte, wage ich zu bezweifeln. Sie war ja anständig, geprägt von christlichen Glaubensvorstellungen und körperfeindlich erzogen. Wie hätte sie da ihre Sinnlichkeit und leidenschaftliche Ader ausleben können? Wahrscheinlich hat sie diese Seite an sich nicht gekannt oder verdrängt – bis die Nazis kamen. Was auch immer sie konkret meiner Oma angetan haben mögen, bestimmt hat sie später meinem Vater nur einen Teil erzählt, denn aufgrund ihrer konservativen christlichen Prägung empfand meine Oma wahrscheinlich Scham darüber und fühlte sich schuldig. Ich gehe davon aus, dass es drei Männer waren, die meine Oma bedrängten, und nicht vier, denn ich hatte viele Jahre später in Indien ein ähnliches Erlebnis mit drei Männern, die etwas von mir wollten. Ich war damals vom langen Reisen körperlich geschwächt und konnte mich nicht wehren, so wie meine Oma sich aufgrund der Schwangerschaft nicht wehren konnte. Ich konnte nicht nein sagen, weil in meiner Familie die Vorstellung vorherrschte, dass man als Mädchen und Frau nicht aufmüpfig sein darf und gefälligst zu gehorchen und sich anzupassen hat. Egal wie viel eine Frau schuftete, sie war nichts wert und wurde nicht gewürdigt. Das war in anderen Familien sicher nicht anders. Kein Wunder, dass es während und nach dem Krieg zu Übergriffen auf Frauen gekommen ist, egal von welcher Seite. Sie waren ja schutzlos, weil ihre Männer weg waren, und konnten sich nicht wehren, weil es ihnen durch die Erziehung und den Einfluss der Kirche ausgetrieben worden ist. Das Prinzip der Erotik konnte weder vom Gros der Männer gelebt werden, die durch den Krieg verroht waren, noch von den Frauen, die die Gewalt der Männer über sich ergehen lassen mussten. Sowohl die Männer als auch die Frauen waren Opfer der damals gängigen Vorstellungen und Propaganda. Ich möchte hier niemandem die Schuld in die Schuhe schieben. Den anderen zu verteufeln, löst das tiefsitzende Opfer-Täter-Muster nicht. Anzuerkennen, dass man selbst, auch wenn nur zu einem kleinen Anteil, zu einer Situation der Gewalt beigetragen hat, hilft dagegen schon. Wir sollten bereit sein, Verantwortung dafür zu übernehmen, was geschehen ist, und Frieden mit uns selbst und den anderen schließen. Jeder Lösungsweg beginnt mit der Anerkennung dessen, was geschehen ist.
Ich habe aus meiner Geschichte und der Geschichte meiner Oma gelernt. Akzeptiere deine scheinbar dunklen Seiten, integriere sie in deiner Persönlichkeit. Nur in der Dualität bestehst du aus hellen und dunklen Seiten. Jenseits davon wird nicht mehr unterschieden zwischen gut und böse, hell und dunkel. Wenn wir werten, trennen wir automatisch in etwas, was legitim bzw. gesellschaftlich anerkannt ist und etwas, was verboten ist. Und damit bin ich wieder bei Merkur im Zeichen Waage. Meine Oma hat mir als Anlage mitgegeben, alles als gleichberechtigt anzusehen, das Dunkle, Unbewusste wie das Helle, Bewusste. Ich bin meiner Oma dankbar.
Kommen wir noch einmal zurück auf die Geschichte mit dem Schwein. Sie dauerte vielleicht nur eine Stunde im Leben meiner Oma – und wirkte nach auf die folgenden Generationen. Ich bin froh, dass sie meinem Vater darüber erzählte. Mein Vater ist sich der Konsequenzen nie bewusst geworden. Ich schon. Diese Geschichte habe ich geschrieben, um dem Leser Mut zu machen. Heute geht es uns materiell besser, und wir haben die Möglichkeit, Unausgesprochenes und Verdrängtes aufzudecken, anzunehmen und in uns zu integrieren – damit wir vollständige Personen werden.
Letztes Update: Juni 07, 2021 / 10:30 Uhr